YU-ICHI: Arbeiten auf Papier

1 November - 20 Dezember 2014

„Die Form selbst, wenn sie auch ganz abstrakt ist, hat ihren inneren Klang.“
Wassily Kandinsky, 1912

Ein seltsamer Zauber geht aus von den abstrakten Tuschebildern des Inoue Yûichi. Stehen wir vor einem von ihnen, dann dauert es nicht lange und es beginnt ein Dialog. Unsere Augen folgen der Spur des Pinsels, werden von seiner Bewegung gefangen. Das im Inneren der Betrachter anklingende Kunstwerk auf dem riesigen Papier an der Wand, dem jeweils ein chinesisches Schriftzeichen zu Grunde liegt, durchbricht die Barriere der einander fremden Kulturen und teilt sich mit.

Jedes chinesische Schriftzeichen hat seine, ihm ganz eigene Bedeutung. Es ist kein Buchstabe, der nur einen Laut wiedergeben würde. Es ist ein Sinnzeichen. Mit seiner Niederschrift ist stets irgendetwas genannt: ein Wesen, ein Gegenstand oder vielleicht ein Gedanke. Mit seiner über mehrere Jahrtausende hin gewachsenen Form besitzt es schon von sich aus, selbst in seiner gedruckten Form, eine spürbare Präsenz.

Den westlichen Betrachtern, denen die Zeichenschrift Ostasiens weitgehend fremd ist, erschien Inoue Yûichi als „abstrakter Expressionist“. Künstler wie Robert Motherwell, Franz Kline oder Pierre Soulages schätzten ihn bald als einen der ihren. Unter den Händen von Yûichi erhielt das geschriebene Zeichen eine durchaus magische Kraft. Damit überwand er die Grenzen seines eigenen, asiatischen Kulturkreises. Er zerriss die Schablone, mit der man im Westen gewohnt war, sich die japanische Kultur als exotisch und unverbindlich lächelnd vorzustellen. Seine Kunst ist Lebensspur.

Wenn Yûichi sich auf ein Thema konzentrierte, dann verinnerlichte er es mit der Zeit derart, daß es regelrecht Besitz von ihm nahm. Dann wurde der Künstler gewissermaßen zum Berg (Yama), zum Vogel (Tori), zum Wind (Kaze). Und das Zeichenbild erschien auf dem Papier, ehe er sich dessen so richtig bewußt werden konnte. Mit beiden Händen hob er den schweren, tropfenden Pinsel aus dem Eimer, in dem er die Tusche vorbereitet hatte, und klatschte ihn spritzend auf das Papier, auf dem er mit bloßen Füßen stand und sich mit der Spur des entstehenden Zeichens bewegte. Und dann war er da, der Berg. Oder der Wind. Und vielleicht der Vogel, falls er sich vorher mit ihm verbündet haben sollte.

Gelegentlich wurde seine Pinselführung leicht und schwebend wie in der Gestaltung des Zeichens für Traum (Yume), bei dem er den Pinsel erst leicht von oben her über das Papier huschen lässt, um ihn am Ende zur vollen Farbgebung darauf nieder zu senken. In seiner transparent vergänglichen Formgebung erinnert sein „Traum“ an das Zeichen für Wolke (Kumo). Und wolkengleich schwebt das Zeichen über dem Papier.

So war die „Kunst des Schreibens“ (Sho) für Yûichi niemals eine nur kalligraphische Wiedergabe des betreffenden Schriftzeichens. Sie war stets Ausdruck, leidenschaftlich dargeboten von Japans bedeutendstem Schreib-Künstler des 20. Jahrhunderts.

Peter-Cornell Richter